Ich gestehe, ich glaube nach wie vor an das Gute im Menschen.
Nenn mich ruhig naiv oder dumm, vielleicht bin ich das sogar.
Doch wenn ich eins bei meiner therapeutischen Arbeit gelernt habe, dann ist es, dass Menschen, die diesen Glauben verloren haben, unglücklich sind.
Sie suchen ständig nach Fehlern, bei sich, häufiger noch bei anderen, sind wütend auf diese oder jene Ungerechtigkeit, Unzulänglichkeit, Inkompetenz, hassen jemanden für alles Mögliche, beschweren sich über das miese Wetter, die lauten Nachbarn, das unartige Kind, verurteilen das Leben anderer, wissen alles besser und doch nichts über sich selbst. Und genau das ist der springende Punkt.
Wenn ich diese Patienten nach ihrem Leben, ihren Begabungen, Bedürfnissen, Wünschen, Fehlern frage, wird es plötzlich ganz still.
Was kannst du denn gut? Arbeitest du in deinem Traumberuf? Was würdest du gern noch lernen? Was sind deine Wertvorstellungen? Was ist deine größte Angst? Wie würdest du leben, wenn du kein Geld mehr bräuchtest? Was tust du am liebsten?
Es ist erstaunlich, wie wenige diese Fragen beantworten können.
Über andere gibt es jede Menge zu sagen, über sich selbst nichts.
Warum neigen wir alle, mich selbst eingeschlossen, dazu, über andere herzuziehen, ihre Fehler zu suchen und unentwegt darauf herum zu reiten, gehässig zu sein und uns selbst in eine Opferrolle zu begeben, wenn etwas nicht gut läuft? Irgendwen oder irgendetwas für unsere Misere verantwortlich zu machen, im Zweifelsfall sogar das Wetter?
Ganz einfach. Damit wir uns selbst besser fühlen.
Wir erniedrigen andere, um aufzusteigen.
So menschlich das alles auch sein mag, hat es einen ganz wesentlichen Haken.
Wir vergiften unser Miteinander, streuen Missgunst und Hass, sind schlechte Vorbilder und verfaulen metaphorisch von Innen.
Wir bauen eine Fassade auf, weil wir von uns selbst auf andere schließen, misstrauisch werden, nicht derjenige sein wollen, dessen Leben als Blaupause für die nächste Lästerei herhalten muss. Unsere Loyalität wird zurecht von anderen infrage gestellt, weswegen niemand sich mehr authentisch zeigt. Echte Freundschaft, die auf dem Vertrauen basiert, sich ohne Schminke oder Maske zeigen zu können, wird unmöglich.
Es ist nicht nur anstrengend, den Schein zu wahren, es macht auch einsam. Und Einsamkeit ist eine der schlimmsten Dinge für das Herdentier Mensch.
Ich sehe da draußen unglaublich viele einsame, traurige Menschen.
Sie alle haben eine ganz eigene Art, das zu zeigen, auch das beobachte ich oft bei meinen Patienten. Einige verstecken sich hinter einem Status, einem Titel, einer renommierten Anstellung, andere hinter unbändiger Wut gegenüber dem System, dem Chef, den Nachbarn, wieder andere stürzen in psychische Erkrankungen, Sucht, Depression. Die Liste ist beliebig weit vorführbar.
Vielleicht hast du langsam eine Ahnung, welche deine liebste Kompensationsweise ist. Du hast eine, glaub mir. Ich nämlich auch.
Ich kenne mich gut, bin mir meiner Gefühle und den tatsächlichen Gründen meiner Handlungen bewusst. Das war viel Arbeit, ist es noch. Deshalb verstehe ich auch, warum viele Menschen die Fragen nach sich selbst scheuen. Es ist beängstigend und holt jede Menge Schmerz hervor. Doch hinter diesem Schmerz steckt es, das Gute in jedem von uns.
Ja, ich glaube daran.
Sogar, nachdem ich zwei Jahre lang mit Entsetzen dabei zugeschaut habe, wie unter guten Vorsätzen Kinder und Jugendliche traumatisiert wurden. Wie Kleinkinder in prekären Familienverhältnissen im Lockdown, oder Jugendliche durch Suizid, starben. Senioren in Folge ihrer unfreiwilligen Isolation freiwillig verhungerten. Und so viele Menschen sich indirekt zu einer medizinischen Behandlung zwingen ließen, um ihren Job zu behalten, einen Studienplatz zu bekommen oder ihren Führerschein machen zu dürfen.
Die Ungerechtigkeit der eben aufgeführten Ereignisse lässt mir den Atem stocken. Es ist nur ein Bruchteil, jeder von uns könnte die Liste der Dinge, die der Idee absoluter Risiko Minimierung zum Opfer gefallen sind, unendlich verlängern. Es gibt keine Worte dafür, welch unglaubliches Leid durch all die „Maßnahmen“ herbeigeführt wurde und es noch immer wird. Mit ihrer Aufarbeitung werden wohl noch unsere Kinder und Enkelkinder beschäftigt sein, wir sollten lieber gestern als heute damit beginnen.
Ob der Zweck diese Mittel heiligte, möchte ich nicht diskutieren, diese Gespräche drehen sich ohnehin im Kreis, das habe ich oft genug ausprobiert. Es ist so, wie es ist. Der Schaden ist da, verhinderter Schaden steht im Konjunktiv.
Es hilft uns nicht, wütend zu sein. Wut verhärtet unsere Herzen und richtet nur noch mehr Schaden an. Was wir jetzt wirklich brauchen, ist Mitgefühl.
Wir sind eine komplette Generation, die eng im Kopf geworden ist. Die eine globale, und verwirrend unübersichtliche Welt nur durch eine Unterteilung der Menschen in Gut und Böse greifen kann. Die aus verständlicher Überforderung Etiketten mit ekelhaft aufgeladenen Worten verteilt, um sich nicht ernsthaft mit dem Menschen dahinter befassen zu müssen und, Gott bewahre, Sympathie zu entwickeln.
Wenn du bis hier hin gelesen hast, dann danke ich dir.
Denn jetzt kommt mein Wunsch an dich.
Ich wünsche mir, dass du dich selbst kennen lernt. Dass du übst, dich selbst zu mögen, dir gegenüber mitfühlend bist und dir öfter einmal Dinge durchgehen lässt. Und dann tust du das Gleiche für andere, erst die, die du liebst. Und irgendwann die, die du absolut nicht leiden kannst.
Und erzähle möglichst vielen Menschen im echten Leben davon, dass sie nicht wütend sein müssen, sondern glücklich sein dürfen.
Egal, was irgendjemand da draußen für einen Irrsinn verzapft.